Die CITEC-Forschungsgruppe Klinische Linguistik befasst sich mit Sprach-, Sprech- und Kommunikationsproblemen
Jeder verspricht sich gelegentlich oder es fällt einem ein Wort nicht ein. Und manchmal fällt es einem schwer, eine andere Person zu verstehen. Was aber, wenn das zur Regel wird? Schlimmer noch, wenn jemand sich gar nicht mehr äußern oder in Belastungssituationen keine flüssigen Äußerungen mehr bilden kann. Die Forschungsgruppe von Professorin Dr. Martina Hielscher-Fastabend befasst sich mit der Diagnostik und Therapie derartiger Störungen. Die Gruppe „Klinische Linguistik“ gehört zur Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft und zum Exzellenzcluster CITEC. Einen Schwerpunkt legen die sechs Forscherinnen auf neurologische Erkrankungen und die damit einhergehenden Sprach- und Kommunikationsstörungen. Aber auch Probleme des Spracherwerbs, der Stimme und der Sprachflüssigkeit, speziell in Belastungssituationen, gehören zu den Forschungsbereichen der Gruppe. Zurzeit entwickelt sie gemeinsam mit Dr. Thies Pfeiffer von CITEC-Zentrallabor und Masterstudierenden eine Trainingsapp für flüssigere Sprachverwendung zur Vorbereitung auf kommunikative Situationen, die für Personen mit Sprachproblemen mit Angst verbunden sind und daher häufig gemieden werden.
„Durch den demographischen Wandel treten Kommunikationsstörungen aufgrund neurologischer Erkrankungen wie Schlaganfall und Demenzen immer häufiger auf, die langfristige kognitive, sprachliche und motorische Probleme mit sich bringen“, sagt Professorin Dr. Martina Hielscher-Fastabend. „Schon seit Ende der 1980er Jahre gibt es in Bielefeld den Schwerpunkt der Aphasie- und Dysarthrieforschung an der Universität Bielefeld im Rahmen der Klinischen Linguistik.“ Aphasien sind Störungen des Sprachsystems in mündlicher und schriftlicher Modalität für Verstehen und Produktion. Dazu gehören auch Wortfindungsstörungen. Dysarthrie bezeichnet demgegenüber Störungen des Sprechens, also der Artikulation und Koordination von Sprechgesten. Vor etwa 15 Jahren ist die neurogene Dysphagie hinzu gekommen. In diesem Forschungszweig behandeln Therapeuten Patienten mit Problemen bei Kau- und Schluckprozessen
Als Psychologin ist Hielscher-Fastabend spezialisiert auf die Entwicklung und teststatistische Absicherung diagnostischer Verfahren für verschiedene Störungsbereiche. Ein Beispiel sind ältere Schlaganfallpatienten mit Aphasie, die meistens nach Schädigungen im Bereich der linken Großhirn-Hemisphäre auftritt. Zusammen mit ihrer Mitarbeiterin Dr. Kerstin Richter, die lange Jahre in einer neurologischen Akutklinik als Sprachtherapeutin gearbeitet hat, entwickelt sie verschiedene Verfahren zur Aphasiediagnostik und Therapie. Zudem forscht Hielscher-Fastabend seit vielen Jahren zu Störungen des Textverstehens bei Patienten mit Läsionen der rechten Hemisphäre, die die Interpretation zusammenhängender Äußerungen, Inferenzprozesse und das komplexe Verstehen von emotionalen Inhalten in sprachlichen Äußerungen betreffen.
Hielscher-Fastabend entwickelte außerdem diagnostische Routinen für Spracherwerbsprobleme, komplexe schriftsprachliche und rezeptive Leistungen bei ein- und mehrsprachigen Kindern. Speziell für Kinder im Elementarbereich sei eine frühzeitige lernorientierte Diagnostik der Kompetenzen äußerst wichtig, erklärt die Psychologin. In der Forschungsgruppe untersucht die Doktorandin Mareike Körner dynamische Tests für diese Altersgruppe.
Die komplexen schulsprachlichen Anforderungen und das Lernen von Fremdsprachen und Fachsprachen stellen die Kinder und Jugendlichen immer wieder vor Herausforderungen. „Um sinnvolle Therapiemethoden und hilfreiche Fördermaßnahmen zu entwickeln, setzt unsere Forschungsgruppe auf Langzeitstudien“, sagt Hielscher-Fastabend. „So können wir die relevanten Problembereiche diagnostizieren.“ In der Forschungsgruppe befassen sich mit diesen Analysen vor allem Dr. Maria Trüggelmann und Denise Gajda. Dabei beschäftigen sie sich auch mit Störungen des Redeflusses wie Stottern, Störungen der Stimme und der Schriftsprache. Spezielle Apps können für diese Altersgruppe besonderes hilfreich sein.
Aktuell arbeitet die Forschungsgruppe gemeinsam mit Dr. Thies Pfeiffer an einer Software, die stotternden Menschen helfen kann, in angstbesetzten Situationen besser den Schritt von der Einzeltherapie in die Alltagspraxis zu schaffen. Geplant ist eine Umgebung in der Virtuellen Realität, die Situationen simuliert, in denen Sprachschwierigkeiten vermehrt auftreten. „Menschen mit gestörtem Redefluss wie Stottern haben oft in bestimmten Situationen Angst, in denen ihre Störung dann besonders stark zum Vorschein tritt“, sagt Hielscher-Fastabend. „Zum Beispiel, wenn sie beim Bäcker früher als geplant an die Reihe kommen und sich ihre Worte noch nicht zurecht gelegt haben. Das Meistern solcher Situationen können wir mit der 360-Grad-Technologie und der VR-Brille ideal trainieren und die Angst vor entsprechenden Anforderungen systematisch abbauen.“
Apps für das Smartphone, mit denen Menschen das Reden vor Publikum oder Prüfungssituationen trainieren können, gibt es bereits zum Download. Mit speziellen Apps für Menschen mit Sprachstörungen betreten Martina Hielscher-Fastabend und Thies Pfeiffer Neuland. In der virtuellen Umgebung können Patienten bestimmte Sprachtechniken angstfreier erproben, als unter realen Bedingungen. Daher stellt die virtuelle Simulation für Menschen mit gestörtem Redefluss eine erhebliche Erleichterung ihrer Therapie dar.
Die Therapie für eine Minderung des Stotterns ist der Auftakt der gemeinsamen Forschung von Hielscher-Fastabend und Pfeiffer. Denkbar wären neben der virtuellen Realität weitere technisch unterstützte Therapieformen für Sprachschwierigkeiten wie Aphasien und für Stimmstörungen. Hielscher-Fastabends Forschungsgruppe arbeitet auch im Rahmen der engen Praxisanbindung der Studiengänge (Klinische Linguistik Bachelor/Master) seit langem mit Kliniken, Schulen und sprachtherapeutischen Praxen aus der Region zusammen. „Dank der engen Zusammenarbeit mit verschiedenen Bielefelder Partnern aus der Region können wir Studien zu aktueller Forschung direkt in den Alltag einbringen“, sagt Hielscher-Fastabend. „Die Schulen und Kliniken profitieren von den neusten Erkenntnissen aus der Wissenschaft und wir können direkt die Theorie in die Praxis bringen. Auch entwickeln sich Fragestellungen in unserem Bereich oft erst aus dem praktischen Alltag.“
In der Zusammenarbeit mit Schulen und Kindergärten steht die Früherkennung und Diagnostik von Sprach- und Kommunikationsstörungen im Vordergrund. Dabei werden nicht nur die typischen Aspekte der Sprachentwicklungsstörungen betrachtet. Ein Beispiel ist die Fehlbelastung der Kinderstimme gerade bei Jungen oder die Entwicklung von Förderkonzepten bei Kindern mit selektivem Mutismus oder im Autismus-Spektrum. Die Kliniken und Praxen sind im praktischen Teil der Ausbildung angehender klinischer Linguisten elementar und verknüpfen die Themen der Arbeitsgruppe, speziell von Dr. Richter, zudem eng mit der Forschungsgruppe der experimentellen Neurolinguistik von Prof. Dr. Horst Müller und Prof. Dr. Sabine Weiss.
In der Forschungsgruppe Klinische Linguistik von Martina Hielscher-Fastabend arbeiten die Forscherinnen Dr. Kerstin Richter, Dr. Maria Trüggelmann, Denise Gajda, Mareike Körner und Dr. Petra Jaecks sowie als wissenschaftliche Hilfskräfte Carmen Schmidt und Gyde Petersen.
Weitere Informationen im Internet:
Forschungsgruppe Klinische Linguistik: http://www.uni-bielefeld.de/lili/studium/faecher/klinische_linguistik/
Lebenslauf Martina Hielscher-Fastabend: http://ekvv.uni-bielefeld.de/pers_publ/publ/PersonDetail.jsp?personId=11692
Kontakt:
Prof. Dr. Martina Hielscher-Fastabend, Universität Bielefeld
Exzellenzcluster Kognitive Interaktionstechnologie (CITEC)
Universität Bielefeld
Telefon: 0521 106 5324
E-Mail: martina.hielscher@uni-bielefeld.de