Team des Exzellenzclusters CITEC entwickelt neue Methode
Schlaganfall-Patienten haben oft Probleme, Situationen visuell zu begreifen: Sie erkennen herannahende Radler zu spät oder stoßen sich den Kopf, weil sie dem herabhängenden Ast nicht ausgewichen sind. Ein Team des Exzellenzclusters Kognitive Interaktionstechnologie (CITEC) der Universität Bielefeld hat eine Methode entwickelt, mit der sich ortsunabhängig und einheitlich messen lässt, wie gut Menschen ihre Umwelt visuell erfassen. Eine weitere Besonderheit: Erstmals setzen die Forscherinnen und Forscher für eine solche Messung Virtual-Reality-Brillen (VR-Brillen) ein. In dem Online-Fachmagazin „Scientific Reports“, veröffentlicht von der Nature Publishing Group, stellen sie ihre Entwicklung vor.
Das Verfahren eignet sich sowohl für gesunde als auch kognitiv beeinträchtigte Menschen. „Menschen unterscheiden sich über verschiedene Situationen hinweg in der Fähigkeit des visuellen Begreifens. Wir wollen mit unserer Methode diese Auffassungsgabe zuverlässig und dem Stand der Forschung entsprechend ausmessen“, sagt der Psychologe Professor Dr. Werner Schneider. Er leitet das Projekt zusammen mit dem Informatiker Professor Dr. Mario Botsch.
„Visuelles Begreifen ist lebenswichtig“, so Schneider. „Wer etwa mit seinem Auto im dichten Feierabendverkehr fährt, muss die Situation so schnell wie möglich verstehen und das Richtige tun.“ In solch einem Fall kann entscheidend sein, wie rasch jemand die anderen Autos und ihre Position, Fahrtrichtung und Geschwindigkeit registriert. „Und das ist das visuelle Begreifen – die Erfassung relevanter Umweltinformationen über den Sehsinn.“
Bislang wird die Fähigkeit des visuellen Begreifens am Computermonitor getestet. „Allerdings ist es problematisch, die Ergebnisse mehrerer Studien zu vergleichen. Denn Faktoren wie die Raumhelligkeit können sich immer wieder aufs Neue unterscheiden“, sagt Schneider. Das mache es schwierig, Befunde aus den Laboren unterschiedlicher Universitäten und Kliniken gegenüberzustellen. „Vor allem in Kliniken sind zuverlässige Messungen wichtig, wenn es zum Beispiel darum geht, zu erfassen, in welchem Ausmaß sich durch eine Rehabilitation die geistigen Fähigkeiten eines Patienten mit Hirnschädigung verbessert haben.“
Als Lösung hat das Team um Schneider und Botsch VR-Brillen wie die „Oculus Rift“ und die „HTC Vive“ erprobt. Sie verwenden für die Brillen den präziseren Begriff „head-mounted Displays“ (HMDs, am Kopf befestigte Bildschirme). Softwarefirmen nutzen diese Geräte zunehmend für 3D-Computerspiele. „Auch für die Forschung sind HMDs attraktiv“, sagt Botsch. „Sie haben den Vorteil, dass sie die virtuelle Umwelt konstant einheitlich abbilden. Größe, Farbe und Helligkeit der dargestellten Objekte sind jedes Mal gleich.“
Schneider und Botsch haben mit ihrem Team nun nachgewiesen, dass das visuelle Begreifen mit HMD mindestens genauso zuverlässig erfasst werden kann wie mit Röhrenbildschirmen im Labor. In ihrer Studie zeigten die Forschenden den Versuchspersonen eine Reihe von Testreizen (Buchstaben) und das jeweils für einen Sekundenbruchteil. Die Personen berichteten dann, welche Buchstaben sie gesehen haben. Aus den Daten ermittelten die Forschenden, wie schnell jede einzelne Person Objekte erfasst, wie viel sie sich kurzfristig merken kann und wo ihre Schwelle der Wahrnehmung liegt – sehr kurz gezeigte Buchstaben werden mitunter nicht wahrgenommen.
In der Studie verwendete das Team eine „Oculus Rift“. Die Software dafür schrieb der Informatiker Christian Behler aus der Forschungsgruppe von Botsch (Computergrafik und Geometrieverarbeitung). Rund 50 Personen ließen sich testen – einmal mit HMD, einmal am Röhrenbildschirm. Die Federführung bei dieser Studie lag bei den Psychologen Dr. Rebecca Förster und Christian Poth aus Schneiders Forschungsgruppe (Neurokognitive Psychologie).
„Scientific Reports“, in dem die neue Studie erschienen ist, ist eine naturwissenschaftliche Online-Zeitschrift, die in einem strengen Verfahren mit unabhängigen Gutachtern Artikel auswählt und deren Qualität prüft. Das Journal erscheint im Open Access, die Artikel sind also kostenlos zugänglich.
Originalveröffentlichung:
Rebecca M. Foerster, Christian H. Poth, Christian Behler, Mario Botsch, Werner X. Schneider: Using the virtual reality device Oculus Rift for neuropsychological assessment of visual processing capabilities. Scientific Reports, http://dx.doi.org/10.1038/srep37016, veröffentlicht am 21. November 2016
Kontakt:
Prof. Dr. Werner Schneider, Universität Bielefeld
Exzellenzcluster Kognitive Interaktionstechnologie (CITEC)
Telefon: 0521 106-6934 (Sekretariat)
E-Mail: wxs@uni-bielefeld.de
Prof. Dr. Mario Botsch, Universität Bielefeld
Exzellenzcluster Kognitive Interaktionstechnologie (CITEC)
Telefon: 0521 106-12148 (Sekretariat)
E-Mail: botsch@techfak.uni-bielefeld.de